Normalität, Risiko und Katastrophe

29. – 30. September 2015, Freie Universität Berlin (D)

Am 29. und 30. September 2015 luden der Arbeitskreis Naturgefahren/-risiken der Deutschen Gesellschaft für Geographie sowie das inter- und transdisziplinäre Netzwerk Katastrophennetz KatNet e.V. zu einem gemeinsamen Treffen zum Thema „Normalität, Risiko und Katastrophe“ an die Freie Universität Berlin ein. Durch die Tagung moderierten Christian Kuhlicke (Leipzig) und Daniel F. Lorenz (Berlin), die zusammen mit Sven Fuchs (Wien) die Organisatoren der Veranstaltung waren.

Zum Auftakt der ersten Session ‚Alltag, Katastrophe und Überraschungen‘ erläuterte Julia Mayer (Bonn) ihrem Vortrag ‚Schutzziele im Bevölkerungsschutz – ein Instrument für Wissenschaft, Politik und Verwaltung?!‘ den Prozess der Formulierung und Setzung verbindlicher Schutzziele für den Bevölkerungsschutz und stellte hierzu eine Schutzzielmethodik vor. Sie verwies darauf, dass die in der Definition von Schutzzielen bereits implizite Normativität oft nicht als solche wahrgenommen würde und bereits Teil des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses sei. Die konkrete Maßnahmenplanung müsse sich an den Schutzzielen, wie bspw. der strategischen Rohstoffreserven orientieren, die zum einen als Instrument der Risikokommunikation Transparenz und zum anderen durch eine verbindliche Grenzwertpolitik Sicherheit schaffen und so einer politisch-wissenschaftlichen Verantwortungsdiffusion entgegenwirken würden.

Anschließend präsentierten Svend-Jonas Schelhorn und Joannes Anhorn (Heidelberg) unter dem Titel ‚Trinkwasser als kritische Ressource in Kathmandu: Eine „alltägliche Katastrophe“?‘ Forschungsergebnisse aus Nepal, die einige Wochen vor dem Erbeben im April 2015 erhoben wurden. Ausgehend von dem Konzept der Wasser-Resilienz analysierten sie die alltäglichen ‚Katastrophen‘ in der Trinkwasserversorgung Kathmandus als Ausgangsbedingungen für die Erstellung eines Katastrophenszenarios ‚Erdbeben‘. Ihr Fazit war, dass vor allem die mit der Urbanisierung einhergehende Wasserknappheit und die unzureichende Strom­ver­sorgung hohe Anpassungsleistungen von Seiten der Bevölkerung erfordern würden und dass das vorhandene Risikobewusstsein jedoch eher privaten Vorsorgemaßnahmen entgegenstünde.

Im nächsten Vortrag ‚Die Uttarakhand-Flut in Indien – Katastrophen und soziale Konflikte‘ beschäftigte sich Cordula Dittmer (Berlin) mit sozialen Konflikten und Ungleichheiten in Uttarakhand, Indien. Ausgehend von der Annahme, im Alltag ‚verborgene‘ Sozialstrukturen und Konfliktlinien würden in Katastrophen sichtbar, identifizierte sie konkurrierende Katastrophennarrationen der Uttarakhand-Flut 2013. So vertrete beispielsweise die lokale Bevölkerung aus ihrer einerseits vulnerablen und subalternen Position heraus einen mystisch-religiösen Gegendiskurs zu jenen Interpretationen von Seiten zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kreise und generiere so andererseits eine gewisse Deutungs- und Handlungsmacht.

Nachfolgend diskutierte Gérard Hutter (Dresden) unter dem Titel ‚Vorhersehbare Überraschung? Anmerkungen zum Konzept „Predictable Surprise“ in der Sicherheits- und Katastrophenforschung‘ Bazerman und Watkins Konzept der ‚predictable surprises‘ würdigend wie kritisch. Während unvorhersehbare Überraschungen unvermeidbar seien, ließen sich vorhersehbare Überraschungen durchaus verhindern und müssten somit politisch verantwortet werden. Laut Hutter umgehe dieses Konzept die Problematik des ‚hindsight bias‘, vernachlässige jedoch die Erfahrungseinsicht der überraschten Akteure.

Schlussendlich stellte Klaus Pukall (Freising) eine ‚Kritische Reflexion über Christians Pfisters These der Katastrophenlücke in der Schweiz‘ an, indem der diese auf ihre empirische Haltbarkeit prüfte und einen den Verlust von katastrophenbezogener Erinnerungskultur anzweifelte. Er stellte die Gegenthese auf, dass die von gesellschaftlicher Ausdifferenzierung geprägte Moderne zu einer Professionalisierung des Katastrophenmanagements und -wissens geführt habe. Für das moderne Naturgefahrenmanagement sei im Gegensatz zum traditionellen eine Wissens­asymmetrie zwischen Experten- und Laientum charakteristisch, wobei dieser Übergang nicht auf die Katastrophenlücke zurückgeführt werden kann.

In der zweiten Session „Resilienz, Risiko und kritische Infrastrukturen“ am Folgetag stellte Martin Schmidt (Darmstadt) empirische Forschung zur intersektoralen Koordination kritischer Infrastrukturen in deutschen Städten im Rahmen seines Vortrags ‚Risikomanagement und Katastrophenvorsorge durch intersektorale Koordination kritischer Infrastrukturen in Städten‘ vor. Er verwies auf die durch institutionelle Ausgliederung und Ausdifferenzierung resultierenden Restrik­tionen für das Katastrophenmanagement. Die sektorenspezifische Frag­men­tierung habe zur Folge, dass oftmals kein gesamtstädtisches Katastrophenmanagementkonzept vorhanden sei. Hieraus ergebe sich ein hoher Bedarf an Koordination und Informationsaustausch, der einem tendenziellen politischen Desinteresse und dem Verlust von technischem Wissen in der Verwaltung gegenüber stünde.

Der zweite Vortrag von Thomas Münzberg (Karlsruhe) ging auf ‚Schutzziele und Referenzszenarien für kritische Infrastrukturen in der kommunalen Gefahren­abwehrplanung‘ ein und stellte die Frage nach dem Umschlagspunkt zwischen der Selbsthilfephase und dem Einsetzen staatlicher Schutzmaßnahmen. Eine Literaturrecherche ergab, dass es keine einheitlichen Empfehlungen für die Stromausfallvorsorge in Deutschland gebe. Im Rahmen einer Medienberichtanalyse untersuchte Münzberg mit Blick auf mögliche Schutzzieldefinitionen die Toleranz­schwellen von unterschiedlich intensiven Strom­ausfällen und kam zu dem Schluss, dass bereits eine niedrige Intensität mit Blick auf Dauer und Betroffenheit relevant für den Bevölkerungsschutz sei.

Im Anschluss umriss Herbert Saurugg (Österreich) das Risiko eines Blackouts in Europa und stellte ‚Einsichten und Reflektionen über den “Black-Out”‘ vor. Unter Blackout wird ein plötzlicher, überregionaler und länger andauernder Strom- und Infrastrukturausfall auf der Ebene des Übertragungsnetzes verstanden.  Er stellte die hochvernetzte Energieinfrastruktur dem durch fehlende institutionelle Vernetzung eingeschränkten Reaktionsvermögen gegenüber. Problematisch sei nicht nur, dass das Risikomanagement komplexe Abhängigkeiten kaum erfassen könne, sondern auch, dass das System vermehrt an seinen Belastungsgrenzen betrieben würde.

Ingo Böing, Adrian Pfalzgraf und Sarah Mareike Lüking (Berlin) präsentierten die ‚Entwicklung eines Risiko-Analyse-Tools zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels‘. Ziel sei es, wissen­schaftliche Informationen ‚so einfach wie möglich und so komplex wie nötig‘ in Form eines Fragebogens aufzuarbeiten und somit Praxisakteuren eine individuelle und benutzerfreundliche Vulnerabilitätsanalyse zu ermöglichen. Hierdurch würde die Grundlage zur Erhöhung der individuellen Anpassungskapazität geschaffen.

Zu guter Letzt beleuchtete Severin Ettl (Wien) in Zusammenarbeit mit Thomas Thaler (Klagenfurt) unter dem Titel ‚Collective Resilience to Natural Hazards: A Social-Ecological Perspective‘ das Konzept der Resilienz aus einer sozial-ökologischen Perspektive und schlug ein durch die Akteur-Netzwerkt-Theorie inspiriertes theoretisches Interaktionsmodell zur Verbindung der gesellschaftlichen und naturalen Sphären vor. Resilienz definiere sich hier als ‚bouncing back‘, also als ein Zurückschwingen zur Normalität beziehungsweise zum vorherigen Gleichgewicht. Kollektive Resilienz ziele folglich darauf ab, die Stabilität eines natürlichen und gesellschaftlichen  Kollektivs zu erhalten.


Programm und Vorträge der Tagung

Tagunsbericht pdf_icon

Einstiegsvortrag

Lorenz, Daniel; Fuchs, Sven; Kuhlicke, Christian
(Berlin/Wien/Leipzig): Einführung: Normalität, Risiko und Katastrophe

Session 1: Alltag, Katastrophe und Überraschungen

Mayer, Julia (Bonn): Schutzziele im Bevölkerungsschutz – ein Instrument für Wissenschaft, Politik und Verwaltung?!

Hutter, Gerard (Dresden): Vorhersehbare Überraschung? Anmerkungen zum Konzept „Predictable Surprise“ in der Sicherheits- und Katastrophenforschung pdf_icon

Schelhorn, Svend-Jonas; Anhorn, Joannes (Heidelberg): Trinkwasser als kritische Ressource in Kathmandu: eine „alltägliche Katastrophe“? pdf_icon

Dittmer, Cordula (Berlin): Die Uttarakhand-Flut in Indien – Katastrophen und soziale Konflikte pdf_icon

Pukall, Klaus (Freising): Kritische Reflexion über Christians Pfisters These der Katastrophenlücke in der Schweiz

Session 2: Resilienz, Risiko und kritische Infrastrukturen

Schmidt, Martin (Darmstadt): Risikomanagement und Katastrophenvorsorge durch intersektorale Koordination kritischer Infrastrukturen in Städten pdf_icon

Münzberg, Thomas (Karlsruhe): Schutzziele und Referenzszenarios für Kritische Infrastrukturen in der kommunalen Gefahrenabwehrplanung pdf_icon

Saurugg, Herbert (Österreich): Einsichten und Reflektionen über den “Black-Out” pdf_icon

Boing, Ingo; Mareike Luking, Sarah; Pfalzgaf, Adrian: Entwicklung eines Risiko-Analyse-Tools zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels

Ettl, Severin; Thaler, Thomas (Klagenfurt, Wien): Collective resilience to natural hazards: A social-ecological perspective pdf_icon